Hüttenanstieg
Obschon ich schon unzählige Bergtouren erlebt habe, war ich am Samstagmorgen doch etwas nervös. Wieso? Von der Tourengruppe mit Bergführer Michi Illien und den Teilnehmern Rebekka, Alexa, Violetta und Niclas kannte ich niemanden. Wie werde ich meine Tourenkameradinnen und Tourenkameraden am Churer Bahnhof wohl finden? Zudem traf am Samstagmorgen um 06:29 Uhr ein WhatsApp ein mit der Mitteilung, dass wir uns beim Postauto treffen und nicht auf dem RhB Perron. Grund; wegen des gemeldeten Starkregens hatte sich Michi entschieden, den vorgesehenen Anstieg in die Zapporthütte nicht vom Stausee Zervreila aus im Valsertal über die Canallücka zu erwandern, sondern ab Hinterrhein direkt zur Hütte aufzusteigen. Ich staunte, wie dieser Programmwechsel mit der heutigen IT-affinen Generation tadellos klappte. Bei der Postautostation in Chur haute ich zuerst prompt eine falsche Gruppe Tourengänger an. Schliesslich hats doch geklappt und ich befand mich zusammen mit Michi und seiner Gruppe im Postauto nach Hinterrhein.
Wie recht doch Michi hatte! Fast den ganzen Samstag hats geregnet und wir erreichten die Zapporthütte praktisch im Dauerregen pudelnass, jedoch sicher und mit guter Laune. Auf dem Hüttenweg zählten wir 20 Salamander (Wätterguaga auf Walserdeutsch), sahen eine ganze Reihe von Sturzbächen und tobendes Wasser in der tiefen Schlucht. Sind wir wirklich in einem zu trockenen Sommer unterwegs? An diesem Samstag machte es Mühe dies zu glauben. Die auf dem Hüttenweg angetroffenen Unterstände waren erstens spärlich und zudem kaum wetterfest.
Die Zapporthütte
In der sehr gemütlichen Zapporthütte, etwa so gross wie unsere Ramozhütte im Welschtobel, konnten wir uns zunächst trocknen und dann den Nachmittag mit Essen, Trinken, interessanten Gesprächen oder mit einem Nickerchen verbringen. Unser Hüttenwart Martin verblüffte mit einem raffinierten Nachtessen. Weil es heute üblich ist, dass es nebst den Fleisch-«Fressern» auch Vegetarier, Veganer und glutenfreie Tafelgenossinnen und Genossen gibt, ist es für die heutigen Hüttenwarte komplizierter geworden. Martin zauberte ein täuschend ähnliches «Geschnetzeltes» mit Reis auf den Tisch, mit dem alle sehr zufrieden waren. Selbst die anderen Hüttengäste bekamen dasselbe vorgesetzt wie der SAC Arosa. Wie haben sich die Zeiten geändert. Zu meiner Teenie-Zeit gabs Suppe mit fettigen Engadiner und dann die obligate Stalden-Creme zum Dessert.
Aufstieg
Am Sonntagmorgen verliessen wir die Hütte bereits um 06:00 Uhr. Die erste halbe Stunde taumelten wir noch im Licht der Stirnlampen. Der Himmel war sternenklar. Als die ersten Sonnenstrahlen den Gipfel des Rheinwaldhorns streiften, waren wir bereits zuhinterst im Talkessel, am Fusse des Tageszieles, jedoch noch 1’000 Höhenmeter zu tief. Durch schroffes Gelände und über Geröllhalden führte uns Michi immer höher bis zur Läntalücka auf 2’980 m. Auf dem darauffolgenden Blockgrätli – dann die perfide Überraschung. Plötzlich waren einige Steinplatten unauffällig vereist und wir suchten wie Eiskunstläufer das Gleichgewicht auf glatter Unterlage zu halten. Aus diesem Grund mussten wir uns auf die Kraxlerei konzentrieren und konnten nur in kurzen Augenblicken die grandiose und majestätische Aussicht auf die Berglandschaft einfangen.
Am Gletscherfuss hiess es die Steigeisen anschnallen. Der Gletscher wurde über Nacht mit einer dünnen, weissen Schneeschicht überzogen. Das wären beste Skitourenverhältnisse! Ich war gespannt, ob meine inzwischen über 45-jährigen Salewa-Steigeisen noch ihren Dienst erfüllen können. Und wie sie dies taten! An einigen stark zurück geschmolzenen aber immer noch imposanten Spalten vorbei stiegen wir direkt auf den Gipfel des 3’402 Meter hohen Rheinwaldhorns. Oder vom Tessin her betrachtet zum Piz Adula.
Leider verhüllten etliche Wolken, die sich im Laufe des Vormittags gebildet hatten, grösstenteils die einmalige Aussicht.
Abstieg
Der Abstieg ist rasch geschildert. Über unzählige Blockfelder und zum Teil an Fixseilen ging es zunächst über den Südgrat und danach über den Westgrat steil abwärts. Zuoberst waren die Steine noch schneebedeckt und der Grat in Nebel gehüllt. Eine wahrhaftig Hochalpine Szenerie! 800 Höhenmeter tiefer beim Laghetto die Cadabi hatte dann die Stolperei endlich ein Ende. Über einen angenehmen Bergweg stiegen wir weiter ab und gelangen bei der Capanna Adula SAC ans Ziel unserer SAC-Tour.
Unsere berufstätigen jungen Teilnehmerinnen und Teilnehmer stiegen noch weiter bis ins Tal ab, weil sie am Montag ihrer Berufstätigkeit nachgehen mussten. Michi und mir als Jungpensionär war es gegönnt, in der Capanna Adula noch zu nächtigen und erst am Montag die Heimreise anzutreten.
Es war ein sehr schönes und abwechslungsreiches Wochenende. Herzlichen Dank an unseren Bergführer Michi, der uns sicher über das Rheinwaldhorn von Graubünden ins Tessin gelotst hat. Dankbar bin ich auch unseren vier jungen Bergsteigerinnen und Bergsteiger. Mich freute es ausserordentlich, dass sie wie unsere damalige junge Generation Freude und Spass am aktiven Bergsport finden und sie sich faszinieren lassen von der Bergwelt. Für mich sehr interessant waren auch die Gespräche. Die Themen variierten vom vegetarischen Geschnetzeltem über Quantenphysik bis zu Systemen der Lawinenauslösung. Immer wieder drang auch der Spirit des SAC durch. Nämlich egal von wo man herkommt und welcher Berufskaste oder Generation man angehört, man verbringt gemeinsam unvergessliche Bergerlebnisse, was ein Gefühl der Verbundenheit entstehen lässt. Vermutlich deshalb war meine anfängliche Nervosität am Samstag früh nur von kurzer Dauer.
Tschau zäma und auf ein Wiedersehen.
Urs Flüeler